(...)

Glücklich blickte ich in zwei lebendig strahlende Pferdeaugen. Frilly und ich hatten heute allen Grund zum Feiern: Zweijähriges! Zwei Jahre waren seit Frillys schwerer Kolikoperation vergangen. Seit zwei Jahren besaß sie einen Meter Dünndarm weniger als andere Pferde, war einen männerfaustgroßen Tumor losgeworden, hatte die genialste Verdauung seit ihres Lebens, eine Knochenabsplitterung im rechten Vorderwurzelgelenk, die ihr ein Beugen des rechten Beines nur noch eingeschränkt erlaubte und einen noch immer sehr maroden linken Huf, dessen Form an einen ausgewaschenen Miniaturfelsen erinnerte und der ihr immer wieder Schmerzen bereitete. Seit zwei Jahren war Frilly in ihrer Bewegungsfreiheit deutlich eingeschränkt und bewies dennoch jeden Tag aufs Neue einen enorm bewundernswerten Lebenswillen. Täglich begrüßte sie meinen Mann und mich mit einem herzlichen Brummeln. Andere Vierhufer wurden mit hellem Wiehern freudig empfangen. Im Schritt lief sie recht flott, und da Traben mit dem wenig beweglichen rechten Vorderbein nicht ganz so einfach war, galoppierte sie lieber und ließ es sich nicht nehmen, so manchen Freudenbuckler zu machen. Ich bewunderte sie zutiefst. Mit all ihren Einschränkungen als Vierbeiner eine derartige Zufriedenheit auszustrahlen - das war für mich mehr als faszinierend. Frilly schien sich jeden Tag erneut an ihrem Leben zu erfreuen. Sie akzeptierte ihren körperlich eingeschränkten Zustand und machte das Beste aus ihrer Situation. Sie genoss das Jetzt und Hier. Lebte im Augenblick. Sie besaß das, was uns Menschen selten eigen war: die außergewöhnlich faszinierende Fähigkeit, jeden Moment für sich zu leben. In unseren vielen gemeinsamen Jahren hatte sie auch mich diese Fähigkeit gelehrt. Mir beigebracht, den kostbaren Augenblick des Lebens zu spüren, zu atmen und zu fühlen. Nicht immer an das Vergangene zu denken und schon gar nicht darüber nachzudenken, was einmal wäre, wenn…

Meine Vergangenheit war ein Teil meiner selbst und als solchen akzeptierte ich sie. Mit all ihren Fehlern, allen Dummheiten, den weniger schönen Erlebnissen und den vielen wunderwunderschönen Momenten. Und was die Zukunft anging, wusste ich so wenig wie alle anderen, was kommen würde. Warum also sollte ich mir über etwas Gedanken machen, was vielleicht womöglich eventuell irgendwann einmal passieren könnte? Es reichte völlig aus, dann darüber nachzudenken, wenn es soweit war. Wie Frilly lebte auch ich bewusst im Hier und Jetzt. Freute mich an dem, was wir gemeinsam erleben durften. Und bislang erlebt hatten. In den fünfzehn Jahren, die wir partnerschaftlich liebevoll unseren gemeinsamen Weg gegangen waren. Was war nicht alles in diesen Jahren passiert. Und erst in den letzten Monaten.

(...)

„Ich rufe jetzt den Tierarzt an. Das lässt mir keine Ruhe.“ Thomas stand neben mir, während ich unserem Tierarzt Ladys Verhalten und ihren Zustand beschrieb. „Hm. Das klingt merkwürdig. Es kann durchaus Muskelkater sein. Beobachten Sie ihr Pferd weiterhin. Wenn sich Ladys Zustand verschlechtert, rufen Sie sofort an. Ansonsten melden Sie sich morgen früh bitte auf alle Fälle nochmals und sagen mir, wie es ihr geht.“ Schulterzuckend blickte ich meinen Mann an. „Wir machen jetzt genau das, was der Doc gesagt hat. Morgen früh sieht die Welt schon wieder anders aus. Glaube mir.“ In der Hoffnung, dass er Recht haben sollte, schaute ich ihn dennoch ungläubig an. Er drückte mir einen aufmunternden Kuss auf die Wange. „Komm, auf geht’s. Morgen ist Weihnachten. Und wir haben noch alle Hände voll zu tun. Vor allem du.“ „Ich?“ „Ja, du. Du musst noch unseren Weihnachtsbaum schmücken.“

Lady fraß, wenn auch deutlich gemütlicher als Peppy, aber sie fraß. Und sie lief, wenn auch mit kurzen, mühevollen Schritten immer wieder zum Wasserbottich, um ihren Durst zu stillen. Fressen und Saufen waren grundsätzlich gute Anzeichen, dass es einem Pferd nicht allzu schlecht gehen konnte. Bei Frilly wusste ich sofort, wie es um sie stand, wenn sie diesen beiden Grundbedürfnissen nicht nachgehen wollte. Und warum sollte es bei Lady anders sein?

(...)

Seit mein Opa kurz nach der Geburt unserer kleinen Cheyenne gestorben war, war meine Oma auf sich alleine gestellt. Das war nun über siebzehn Jahre her. So lange schon lebte sie alleine in ihrem kleinen Haus. Glücklicherweise war sie eine lebens- und unternehmungslustige Frau, der die Einsamkeit nichts auszumachen schien. Sie besuchte in regelmäßigen Abständen meine Mutter oder mich und unternahm nette Ausflüge mit ihren Freundinnen. Ihr Humor wurde untermalt von einer verbalen Bestimmtheit, mit der nicht jeder unbedingt klar kam. Da ich meine Oma über alles liebte, hatte ich keine Probleme mit ihrer geradlinigen Art. Ich trat ihr im Zweifel ebenso humorvoll bestimmt entgegen, wie sie mir. Vielleicht hatten wir gerade deswegen ein besonders herzliches Verhältnis.

Seit einigen Wochen war meine Mama der Meinung, Oma würde langsam, aber sicher dement werden. Ich hatte bislang noch nichts davon bemerkt. Weder bei meinen Telefonaten, noch bei meinen Besuchen. Ich versuchte, Oma wenigstens einmal im Monat zu besuchen, entweder an einem Samstag oder, wenn ich Urlaub hatte, unter der Woche. Die gut einhundert Kilometer, die uns Luftlinie von einander trennten, erlaubten mir nicht abends nach der Arbeit kurz bei ihr vorbei zu schauen. Deswegen nahm ich mir für meine Besuche auch immer viel Zeit.

Oma hatte keinen Führerschein und in ihrem heimatlichen, sechshundert Seelendörfchen gab es seit Jahren weder einen Bäcker noch einen Metzger, geschweige denn eine Bank. Also erledigten wir sämtliche Einkäufe und Botengänge, wenn ich bei ihr war: Wir fuhren vom Supermarkt zum Metzger, vom Metzger zum Bäcker, dann in einen Drogeriemarkt und im Anschluss auf die Bank. Unser Einkaufsausflug endete grundsätzlich auf dem Friedhof, wo wir regelmäßig Opas Grab besuchten. Obwohl er schon so viele Jahre tot war, vermisste ich ihn wie am ersten Tag. Allerdings brauchte ich sein Grab nicht besuchen, um seine Nähe zu spüren. Für mich war er all gegenwärtig, in jedem Moment, in dem ich an ihn dachte. Oma dagegen bedeuteten die Grabbesuche viel. Da sie ihre erste, große Liebe im Krieg verloren hatte und nicht wusste, wo ihr Liebster beerdigt lag, hatte sie nie Abschied von ihm nehmen können. Opa hatte auf dem dörflichen Friedhof seine letzte Ruhestätte gefunden und so wusste Oma immer, wo er zu finden war. Das war ihr wichtig.

Aufgrund ihrer kleinen Größe und ihres dafür mehr als doppelt gewichtigen Umfangs, war sie auf den Beinen nicht mehr ganz so rüstig. Das Gehen fiel ihr schwer. Ohne stützenden Stock bewegte sie sich schon lange nicht mehr im Haus, geschweige denn außerhalb. Ich hatte Oma sehr lieb. Wo auch immer der elterliche, berufliche Wandertrieb mich hin verschlug, war sie für mich da. Telefonisch war sie jederzeit für mich erreichbar und rief selbst täglich an, um mit mir meinen Kummer und natürlich auch meine Freude zu teilen. Und es schmerzte mich sehr, dass wir so viele Kilometer voneinander entfernt lebten und uns nur einmal im Monat sahen. Dafür telefonierten wir unverändert noch immer täglich miteinander. Ich wollte, dass Oma wusste, wie wichtig sie mir war.

(...)